Mittwoch, 5. März 2014

Schade, dass ich wirklich bin

Schade, dass ich wirklich bin“, schreibt Siri Hustvedt in 'Der Sommer ohne Männer'.
Ein kleines Mädchen spielt in der Nähe der Hauptfigur mit einem Puppenhaus und Kuscheltieren. Hustvedt schreibt: „Ich wandte mich wieder meinem Buch zu, aber die Stimme des Kindes lenkte mich hin und wieder durch Ausrufe und lautes Summen ab. Einer kurzen Stille folgte die plötzliche Klage: 'Schade, dass ich wirklich bin. Drum kann ich nicht in mein kleines Haus gehen und drin wohnen!'
Ich erinnerte mich, erinnerte mich an jene Schwellenwelt des Beinahe, in der sich Wünsche fast verwirklichten. Konnte es sein, dass sich meine Puppen nachts regten? Hatte sich der Löffel selbsttätig ein paar Millimeter bewegt? Hatte meine Hoffnung ihn verzaubert? Wirkliches und Unwirkliches wie spiegelbildliche Zwillinge, so nah beieinander, dass beide lebendigen Atem verströmten.
Als Kinder haben wir unsere eigene Welt. Wir sehen eine Welt, aber nicht die, die uns beigebracht wird. Wir sind noch nicht lange genug anwesend, um derart beeinflusst worden zu sein, dass wir Feen und Magie nicht mehr sehen. Alles ist möglich. Und so verkörpert ein und dieselbe Stimme manchmal bis zu fünf verschiedene Puppen. In diesem Moment sind es verschiedene Stimmen für uns. Da solle einem mal einer beweisen, dass dem nicht so ist.
Sie beweisen es. Und so wird aus unseren Vorstellungen etwas Unwirkliches, Unwahrscheinliches. Wir setzen uns auseinander mit Wirklichkeit und Hirngespinsten, lernen zu unterscheiden bis das eine nicht mehr parallel zum anderen existieren kann.
Das ist nicht unbedingt schlecht. Es geht fast nicht anders. Wir müssen uns einigen auf bestimmte, einige Gegebenheiten. Anderenfalls wäre eine Gesellschaft undenkbar. Auch wenn diese noch so oft kritisiert wird, so gibt es sie doch. Wir brauchen sie wohl, denn wie sollten wir ohne Mitmenschen leben?
Wir passen uns also an, werden erwachsen. Doch legen wir das Träumen von Widersprüchen zur Realität nie ab. Es entstehen Sätze wie: Wenn ich doch nur reich wäre, dann könnte ich mir alles leisten. Wenn ich doch nur gesund wäre, dann würde ich mein Leben genießen.
Wunschdenken begleitet uns immer, jedoch verändert es sich. So dachten wir früher an Fantastereien, wo wir heute nur hypothetisch Mögliches in Erwägung ziehen. Und obwohl unsere Träume bescheidener und machbarer werden, so wünschen wir weiterhin, ohne zu glauben, wohingegen wir damals glaubten, ohne wünschen zu müssen.
Manchmal beschleicht einen der Gedanke, dass die Welt ohne diese Vereinbarungen, die eine Gesellschaft ermöglichen, toller wäre. Denn dann müsste niemand mehr äußern: „Schade, dass ich wirklich bin“, denn Wirklichkeit hätte keine Bedeutung.


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